»Als der Bildhauer Gerd Reutter am 6. Oktober 2014 die SWR-Dokumentation „Tod vor Lampedusa – Europas Sündenfall“ gesehen hatte, fasste er spontan den Entschluss, seine Eindrücke und Emotionen bildnerisch umzusetzen
Anlass für den Film war die Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei der ein mit 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea völlig überladenes Boot kenterte und 390 Menschen ertranken. Die Schrecken der Opfer dieser Katastrophe sind so intensiv vermittelt, dass der Film am 2. November 2015 in München mit dem Katholischen Medienpreis 2015 in der Kategorie „Elektronische Medien“ ausgezeichnet werden wird. Gemäß der Methode des „taille directe“ entsteht nach Findung oder durch die Eingebung einer Idee sofort deren Umsetzung ohne Vorzeichnung oder Modell. So auch bevorzugtermaßen bei Gerd Reutter. Ein glücklicher Umstand fügte, dass Thomas Reutter – Sohn des Künstlers und zugleich Redakteur des TV-Films über Lampedusa – seinen Vater bei der Entstehung der Skulptur filmisch begleiten konnte (siehe hier). Zwei Platten roten Tons werden kräftig bearbeitet und zu einem größeren, hochoblongen Teil zusammengepresst. Auf der Rückseite ist im unteren Teil ein vertiefter Streifen als Struktur gleichsam eingefräst, der zugleich auch die mögliche Anlegestelle eines einfachen Seefahrzeugs markiert. Dann schneidet Reutter aus einer weiteren Platte fünf breite Streifen, die er zu Wülsten rollt und mit Schlicker zu einem floßförmigen Gebilde zusammenfügt sowie – zu dessen Fixierung – auf der Unterseite oben und unten mit je einem flachen Tonstreifen unterfüttert. Zur Stabilisierung dieses zweiteiligen Ensembles ist die große Tonplatte, quasi die Mauer, mit zwei kräftigen Stahlstiften verzapft, die auf einem brünierten Stahlriegel als Standplatte verschweißt sind, während das Floß auf der rechten Seite des Streifens verfugt ist.
Die große Platte sowie die Wülste werden in einem ersten Gang mit 900 Grad gebrannt und anschließend schwarz engobiert. Dann erfolgt der zweite Brand mit 1.250 Grad. Die Skulptur zeigt im Endeffekt einen tiefen, warmen Bronzeton.
Beim Betrachter dieses Werks entsteht die leise Hoffnung – und Gerd Reutter denkt da an Ernst Bloch –, die Festung Europa könnte doch noch eine neue Bleibe werden. Als Thomas Reutter seinen Vater fragt, welchen Titel er der Arbeit geben möchte, sagt Gerd Reutter nach längerer Überlegung nachdenklich: „Ja, der Titel der Skulptur ist IN FREIHEIT.“ Und kurz danach fügt er grüblerisch hinzu: „Von wegen große Freiheit und so, wer weiß, was die Leute hier erwartet.“
Diese Ungewissheit für die Flüchtlinge entspricht der Ambivalenz des Künstlers durch sein Wissen um so unmenschliche Vorgänge wie das Blockieren der Flüchtlinge an der französischen Grenze, ihre Einreise-Sperre nach Großbritannien, die Errichtung eines 4 m hohen Stacheldrahtzauns um Ungarn, der Rechtsruck in Dänemark und die zahlreichen Brandanschläge auf Asyleinrichtungen in Deutschland: Sie ließen Gerd Reutter intuitiv diese Form des Sujets finden – die unüberwindliche Mauer, die nicht nur passiv die Distanz Europas zu diesem Thema symbolisiert, sondern aktiv dessen untergründigen bis vehementen Widerstand. Mit anderen Worten: Die „Festung Europa“ macht dicht, die Flüchtlinge werden zu Strandgut.
Es ist wie bittere Ironie, dass sich auf Lampedusa „Floß der Medusa“ reimt, ein Floß mit hilflosen Schiffbrüchigen der französischen Fregatte gleichen Namens, die 1816 vor dem westafrikanischen Senegal auf Grund gelaufen war. Das aus den Trümmern der Fregatte gebaute Floß mit den Ausmaßen von 8 × 15 Metern musste 149 Menschen aufnehmen, von denen nur 15 überlebten.
Théodore Géricault machte in seinem 1819 entstandenen Monumentalgemälde die Katastrophe eindrucksvoll sinnfällig, indem er das Bild mit den Maßen von ca. 5 × 7 Metern ziemlich genau halb so groß anlegte wie das reale Floß der „Medusa“. Dies macht die Vorstellung der Unterbringung von umgerechnet etwa 70 Menschen auf exakt dieser Fläche umso beklemmender.
Ein treffenderes Gleichnis könnte es für die gesamte aktuelle Situation der Bootsflüchtlinge aus vielen Ländern Afrikas, aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nicht geben. Dies ist auch der Grund, warum Gerd Reutter bei seiner Wahl des Flucht- bzw. Rettungsvehikels bewusst auf die archaische Form des Floßes zurückgriff, weil es die Unwägbarkeit im Kampf mit den Elementen, also dem Wasser, dem Wind und den Wellen besonders krass symbolisiert. Gesteigert wird dieses Ausgeliefertsein noch durch den Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln.
Die durch ihre einfache, prägnante Form bestechende Skulptur IN FREIHEIT von Gerd Reutter ist – gerade auch durch ihre Ambivalenz – von erschreckender Aktualität!«
Dr. Jochen Kronjäger, Kunsthalle Mannheim